Der weiße Stock – Freiheit und viel zu oft Stein des Anstoßes.

Heute ist der 15. Oktober. Es ist der Internationale Tag des weißen Stocks. Ich schreibe diesen Text, weil dieser Tag für mich persönlich sehr wichtig ist. Ich bin selbst hochgradig sehbehindert. Das bedeutet, ich kann noch etwas sehen, aber vieles eben nicht mehr klar erkennen. Ich bewege mich in einer Welt, die für sehende Menschen gemacht ist, und der weiße Stock ist dabei eigentlich ein wunderbares Werkzeug. Er hilft mir, Hindernisse zu erkennen, Stufen zu ertasten, Bordsteine zu finden und sicherer zu gehen. Doch so hilfreich dieser Stock ist – so schwer ist es oft, ihn in einer Gesellschaft zu benutzen, die ihn zwar kennt, aber zu selten achtet. Darum greife ich viel zu oft lieber zu einer Taschenlampe.

Der weiße Stock ist ein Zeichen. Er zeigt: „Hier geht ein Mensch, der nicht oder nicht gut sehen kann.“ Er soll Sicherheit bringen – für den, der ihn benutzt, und auch für die anderen im Straßenverkehr. Er ist eine Art Sprache ohne Worte. Wenn ich ihn benutze, sage ich: „Ich brauche etwas mehr Raum und Achtung.“ Und wenn andere ihn sehen, sollten sie verstehen: „Ich gehe langsamer, weil ich vieles nicht sehen kann.“ In der Theorie funktioniert das wunderbar. In der Realität leider viel zu selten.

Der weiße Stock ist nicht einfach ein Hilfsmittel. Er ist ein Stück Freiheit. Er bedeutet Unabhängigkeit. Ich kann allein zum Bus gehen, über die Straße, in den Laden. Ich muss nicht immer jemanden bitten, mich zu begleiten. Der Stock gibt mir Mut, auch bei Dunkelheit oder Regen das Haus zu verlassen. Wenn ich die Bewegung richtig mache – von Seite zu Seite, wie es Richard Hoover, ein amerikanischer Lehrer für blinde Kriegsveteranen, schon in den 1940er Jahren lehrte –, kann ich Stolperfallen oder Bordsteine fühlen, bevor ich sie sehe.

Doch der weiße Stock ist auch ein Symbol. Er wurde in den 1920er Jahren von einem Engländer namens James Biggs erfunden. Biggs war Fotograf, er verlor sein Augenlicht bei einem Unfall und malte seinen Stock weiß, damit Autofahrer ihn besser sahen. Später setzte sich die Französin Guilly d’Herbemont dafür ein, dass der weiße Stock in ganz Europa bekannt wird. Sie verteilte Tausende davon an blinde Menschen. In den USA war es der Lions Club, der die Idee weitertrug. Und der weiße Stock bekam eine zweite Bedeutung: Er zeigte nicht nur „Ich brauche Hilfe“, sondern auch „Ich bin Teil dieser Gesellschaft“.

In Deutschland ist der weiße Stock auch rechtlich geschützt. Das bedeutet: Wenn ich mit einem weißen Stock über die Straße gehen will und ihn sichtbar halte, müssen Autos anhalten. Sie dürfen nicht einfach vorbeifahren. Es ist wie bei einem Zebrastreifen – nur ohne die weißen Streifen auf dem Boden. Der Stock selbst ist das Zeichen. Außerdem übernimmt die Krankenkasse die Kosten für den weißen Langstock, weil er offiziell als Hilfsmittel anerkannt ist. Doch das alles hilft wenig, wenn Menschen nicht wissen, was dieses Zeichen bedeutet.

Ich habe ein sehr gespaltenes Verhältnis zu meinem weißen Stock. Es gibt Tage, an denen ich froh bin, dass ich ihn habe. Ich gehe damit sicherer durch die Dunkelheit, erkenne Bordsteine und Wände, bevor ich dagegenlaufe. Ich kann spüren, ob der Weg frei ist oder ob da mal wieder ein E-Scooter steht oder liegt. Ich fühle mich damit unabhängig. Aber es gibt auch die anderen Tage. Die Tage, an denen ich Blicke spüre. Diese Blicke sagen: „Du siehst doch!“ oder schlimmer noch: „Der tut ja nur so!“

Ich erinnere mich an eine Situation an der Bushaltestelle. Es war spät am Abend. Ich nutzte den weißen Stock, weil es dunkel war und ich sonst die Bordsteinkante nicht erkenne. Im Bus setzte ich mich, nahm mein Tablet heraus und beantwortete E-Mails. Ich sah, wie zwei Leute tuschelten. Einer sagte laut genug, dass ich es hören konnte: „Der kann ja wohl sehen, der tippt ja auf dem Tablet!“ Ich habe mich geschämt und war extrem verärgert – nicht, weil ich etwas falsch gemacht habe, sondern weil sie nicht verstanden haben, dass Sehen kein Alles-oder-Nichts ist.

Viele Menschen glauben, dass man entweder blind ist oder eben sehend. Sie denken in schwarz und weiß. Aber so ist das nicht. Es gibt viele Abstufungen dazwischen. Manche Menschen sehen nur schemenhaft, andere nur hell und dunkel, wieder andere nur in bestimmten Winkeln. Ich kann zum Beispiel Schrift erkennen, wenn ich sie mir sehr nah ans Auge halte oder wenn das Licht stimmt. Ich kann Gesichter sehen, aber keine Details. Und wenn ich müde bin oder es dunkel wird, sehe ich fast nichts mehr. Der weiße Stock hilft mir in diesen Momenten, mich sicher zu bewegen. Doch für Außenstehende ist das oft unverständlich.

Ich wünschte, die Gesellschaft würde begreifen, dass Behinderung nicht immer sichtbar ist. Der weiße Stock sollte Respekt auslösen, nicht Zweifel. Wenn jemand mit diesem Stock unterwegs ist, dann hat das einen Grund. Und selbst wenn ein Mensch nur sehbehindert ist – der Stock darf und soll benutzt werden. Er schützt, er warnt, und er erleichtert das Leben.

Leider gibt es immer wieder Anfeindungen. Manche beschimpfen uns, manche lachen, manche drängen uns zur Seite. Es gibt Autofahrer, die hupen, obwohl sie sehen, dass jemand mit weißem Stock über die Straße geht. Es gibt Menschen, die einem den Stock aus der Hand reißen, weil sie denken, man spiele Theater. Es gibt sogar Fälle, in denen Polizisten den Sinn des Stocks nicht kannten. Das alles zeigt: Wir haben in Sachen Inklusion, also dem gleichberechtigten Teilhaben aller Menschen, noch einen sehr langen Weg vor uns. Inklusion heißt, dass jeder Mensch so leben kann, wie er ist – ohne Hindernisse und ohne Angst vor Ausgrenzung.

Ich schreibe diesen Text nicht, um zu klagen. Ich schreibe ihn, weil ich möchte, dass Menschen nachdenken. Der weiße Stock ist kein Symbol für Schwäche. Er ist ein Zeichen für Selbstbestimmung. Er steht für Mut. Für die Entscheidung, das Leben nicht nur zu ertragen, sondern aktiv zu gestalten. Jeder Schritt mit dem weißen Stock ist ein kleiner Sieg über die Barrieren, die andere gebaut haben – in den Straßen, aber auch in ihren Köpfen.

Heute, am 15. Oktober, möchte ich daran erinnern: Der weiße Stock ist ein Stück Würde. Wer ihn trägt, hat sich entschieden, sichtbar zu sein, auch wenn das manchmal weh tut. Er ist ein Werkzeug der Freiheit, aber auch ein Prüfstein für die Gesellschaft. Daran, wie wir mit Menschen umgehen, die ihn benutzen, zeigt sich, wie menschlich wir wirklich sind.

Ich wünsche mir, dass eines Tages niemand mehr überlegen muss, ob er den weißen Stock lieber zu Hause lässt, um nicht angestarrt oder beleidigt zu werden. Ich wünsche mir, dass wir lernen, hinzusehen, ohne zu verurteilen. Der weiße Stock ist nicht nur ein Hilfsmittel für Blinde – er ist ein Spiegel für uns alle, für unsere Gesellschaft.